Entdeckung des Alltäglichen


Es ist einfach menschlich, zu über­se­hen, was man hat. Man ist Teil einer Familie und hat Freun­de, ist gesund und kauft sich viele Dinge, von denen man der Über­zeu­gung ist, dass sie nötig sind. Man fährt in den Urlaub oder betätigt im Win­ter ein­fach einen Regler am Heiz­kör­per, und die Raum­tem­pe­ratur wird ­an­ge­neh­mer. Die Liste der kleinen oder gro­ßen Dinge, auf die wie selbst­ver­ständ­lich, ohne un­be­dingt ­dar­über nach­zu­den­ken, zu­rück­ge­grif­fen wird, könn­te noch viel länger wer­den.

Auf diese Liste besinnt sich auch der Budôka immer wieder. Was denkt er sich dabei und woher kommen seine Ge­dan­ken­gän­ge? Wel­chen Nutzen bringt dieses Nach­den­ken über­haupt? Erst nach der Entdeckung einer Kampfkunst wird – vorab ansatzweise – bewusst, was für ein Ge­fühl es sein kann, sich im Einklang mit der Um­ge­bung, dem Partner, der Atmung zu be­we­gen. Diese wertvollen Erfahrungen ver­dankt der Budôka vor allem sei­nem Körper. Es ist nicht selbst­ver­ständ­lich, gesund und in einer körperlichen Ver­fas­sung zu sein, die es er­mög­licht, sol­che Ge­füh­le zu er­le­ben. Au­to­ma­tisch kommt ihm daher der Ge­dan­ke, dass er sich über dieses Geschenk der Ge­sund­heit, das ihm schließ­lich ohne weiteres jederzeit abhanden kom­men kann, täg­lich freu­en soll­te. Durch das Be­wusst­sein die­ser Tatsache und den Wunsch sich für das zu be­dan­ken, was er hat, kann er ei­nen Glauben ent­wic­keln, auch wenn er sich bis die Ver­beu­gung be­wus­ster aus­ge­führt. Der Bu­dô­ka er­tappt sich da­bei, wie er sich in Ge­dan­ken dafür be­dankt, dass das Trai­ning be­ginnt und er dabei sein darf. Mit der Zeit versteht er, was es be­deu­tet, All­täg­li­ches nicht ein­fach als selbst­ver­ständ­lich hin­zu­neh­men­. Ihm wird klar, dass es oh­ne ­Dôjô, Sen­sei, Mit­schü­ler, Ge­sund­heit und vieles an­de­re ­mehr nicht mög­lich wäre, zu trai­nie­ren, was ihm aber Freude bereitet und eine Bereicherung für sein Leben darstellt. Führt er diesen Gedanken weiter, stellt er viel­leicht fest, dass diese Ein­stel­lung inzwischen ein Teil von ihm ge­wor­den ist: auf einer Wiese, wo er das schöne Wetter genießt, kommt ihm z.B. au­to­ma­tisch der Ge­dan­ke, dass die­ser Au­gen­blick ein Ge­schenk sei. Er sieht die schönen Farben der Natur und berührt das Gras, riecht den Duft der Blumen und hört den Ge­sang der Vögel, schmeckt den saf­ti­gen Apfel, den er gerade isst. Dies alles sind keine Selbst­ver­ständ­lich­keiten mehr, und der Kreis schließt sich. Es ist ein Geben und Nehmen, denn durch das Gefühl der Dank­bar­keit geht er re­spekt­vol­ler mit allem um, was mit ihm in Be­rüh­rung kommt. Dafür erlebt er ge­fühl­vol­lere Si­tua­tio­nen, die ihm grö­ßere Freude be­reiten als früher, wo alles ober­fläch­licher ge­se­hen wurde.
Früher oder später kommt möglicherweise die Frage auf, ob man in der Lage wäre, auf das, was man heute besitzt, zu ver­zich­ten. Man würde viel­leicht ger­ne spon­tan mit ei­nem „Ja“ ant­wor­ten, kann sich aber schlecht selbst etwas vor­ma­chen. So be­ginnt eine ge­dank­li­che Aus­ein­an­der­set­zung, durch die in Be­tracht gezogen wird, in ver­schie­de­nen Si­tua­tio­nen mal auf das eine, mal auf das andere zu ver­zich­ten. Die Schwie­rig­keit die­ses Un­ter­fan­gens regt zu noch tieferem Nach­den­ken an. Einem Budôka stellt sich hier die Frage, was er denn im Trai­ning eigentlich ge­lernt hat. Soll er sich nicht an jede neue Si­tua­tion an­pas­sen? Wenn der Gegner seine Dec­kung ver­än­dert, so muss er auch dem­ent­spre­chend rea­gie­ren, will er nicht von einem un­er­war­teten An­griff über­rascht wer­den. Dann lernt er die näch­ste Kata (Form) und die bisher noch nie geübten Kom­bi­n­a­tio­nen bereiten ihm Schwie­rig­kei­ten. Was bleibt dem­nach übrig, als einfach mit Freude zu trai­nie­ren, damit der Bu­dô­ka ­das Neue, das einen weiteren Schritt auf seinem Weg dar­stellt, eines Tages mei­stern kann. Um seiner Disziplin gegenüber konsequent zu sein und auch um seinen Sensei nicht enttäuschen zu müssen, wenn die­ser ähn­li­che Fra­gen auf­wirft, sieht der Budôka die ge­nann­te Auf­ga­be als Her­aus­for­de­rung. Er be­gi­nnt nach Lö­sun­gen zu suchen, hinter denen er ste­hen kann. Auf diese Weise er­gänzt er ein­mal mehr sei­ne Denk­wei­se, und die Über­zeu­gung wächst, dass er ei­gent­lich auf immer mehr Dinge verzichten könn­te.
Dass be­stimm­te all­täg­liche Klei­nig­kei­ten nicht ohne große Über­win­dung los­ge­lassen wer­den kön­nen, sollte gelassen ge­se­hen werden. Über bereits sichtbare Ergebnisse sollte man sich freuen, denn kein Kampf kann ohne Aufwand geführt wer­den.
So kann sich das Verlangen nach Materiellem, das zu einem großen Teil nur das eigene Ego be­frie­digt und von der Suche nach vergessenen Werten ablenkt, langsam, aber stetig re­du­zie­ren.

Aus dem Buch: Der Pfad der Flexibilität / Einführung des Kapitels „Die Wurzeln“

Quelle: http://www.budo-books.com/category/blog/

Richtungsorientiertes Vorgehen


Es gibt Momente im Leben, die Ent­schei­dun­gen erfordern, für die es nicht im­mer mög­lich ist, sich die nö­tige Zeit zu neh­men. In diesen Fäl­len verlangt die Si­tua­ti­on ei­ne schnel­le Stel­lung­nah­me. Un­ab­hän­gig davon ist ­es im­mer von Vor­teil, ge­nau zu wissen, wel­che Rich­tung man ein­schla­gen will. 

Der Kampf zwischen zwei Budôka, der auf ei­nem ­ho­hen Niveau geführt wird, ent­schei­det sich nicht durch of­fen­sichtliche Tech­ni­ken. Die Ausführung einer Tech­nik ist nur das Er­geb­nis bereits ab­ge­schlos­se­ner Wahr­neh­mun­gen, und aus­schlag­gebend für den Kampf sind für ungeübte Au­gen kaum er­kenn­ba­re ­K­le­i­nig­kei­ten. Ei­ne Dec­kung, die eine minimale Lücke aufweist und es deshalb nicht er­mög­licht, be­stimm­te An­grif­fe schnell und ef­fek­tiv ab­zu­weh­ren, reicht aus, um den Ausgang des Kamp­fes festzulegen. Ebenso eine Stel­lung, die un­sta­bil oder un­be­weg­lich ist, wo­durch eine Ver­tei­di­gung um den Bruch­teil einer Se­kun­de verzögert würde. Auch ei­n Schritt, der in einem un­pas­sen­den Au­gen­blick ausgeführt und vom Geg­ner sofort genutzt wird, kann sich ver­häng­nis­voll aus­wirken. Der be­kann­te Satz „Das Volle mit dem Leeren an­grei­fen“ ver­deut­licht, welche Rolle die At­mung selbst spielt, denn der op­ti­ma­le Au­gen­blick für ei­nen Angriff ist wäh­rend des gegnerischen Ein­atmens (volle Lun­ge) und des gleich­zei­ti­gen eigenen Aus­atmens (leere Lun­ge).
Diese und an­de­re kaum sicht­ba­re, aber ent­schei­den­de Klei­nig­kei­ten ver­än­dern eine Kampf­si­tua­ti­on.
Eine geschärfte Wahrnehmung, also genau zu wis­sen was man tut, ohne aber die Ge­samt­über­sicht zu ver­lie­ren, ist ausschlaggebend. Parallel dazu darf wäh­rend­des­sen nicht ge­dacht wer­den, um­ die ei­ge­nen Fä­hig­kei­ten nicht ein­zu­schrän­ken. Der Kör­per hat au­to­ma­ti­siert, was ge­tan wer­den muss. Eine ge­dank­liche Aus­ein­an­der­set­zung mit der Si­tua­tion wür­de sich wie ein Hemm­schuh aus­wir­ken, denn Re­ak­tionen, die den Um­weg über den Kopf neh­men müs­sten, würden zu spät kom­men.
An­spruchs­vol­le­re Kämp­fe werden mit ei­ner kon­trast­rei­chen Ein­stel­lun­g geführt, ohne dass diese da­bei aktiv ein­ge­schal­tet wird. Sowohl die De­tails als auch die ge­sam­te Hand­lung sollten sich spon­tan er­ge­ben, in­dem der jeweilige Au­gen­blick genutzt wird. In jeder Si­tua­ti­on ge­nau zu wissen, was er er­rei­chen will, um somit stets hand­lungsbereit zu sein, stellt daher für den Budôka ein bedeutendes Anliegen dar, das er ebenso zu einem Be­stand­teil seines All­tags zu ma­chen sucht. Auch in die­sem Fall bietet ihm die im Dôjô ge­sa­m­mel­te ­E­r­fah­rung eine Leh­re fürs Le­ben. In über­tra­ge­nem Sinne bedeutet Kampf nicht nur kör­per­li­che Kon­fron­ta­ti­on, son­dern auch Ge­dan­ken­aus­tausch, Mei­nungs­äu­ße­rung oder ­Stel­lung­nah­me.
Um sagen zu kön­nen, dass man fried­lich ist, muss man kämp­fen kön­nen. Wer nicht kämp­fen kann, wird nie wis­sen, ob er fried­lich ist.
Jahrelanges Lernen ei­ner Kampfkunst formt den Bu­dô­ka in seinem Selbstbewusstsein. Je nach Cha­rak­ter und Sicht­wei­se wird der ei­ne den­ken, dass er fähig sei, sich selbst zu ver­tei­di­gen. Ein anderer wie­der­um wird selbst nach jahr­zehn­te­langer Pra­xis ­be­haup­ten, dass er im Ernst­fall nicht in der Lage wäre, sich effektiv ver­tei­di­gen zu kön­nen. Un­ab­hän­gig von den in­di­vi­du­ellen Ein­stel­lun­gen ist es eine Tat­sa­che, dass der stän­dige Um­gang mit ei­ner Kampf­kunst un­ter an­de­rem auf kör­per­li­che Aus­ein­an­der­set­zun­gen vor­bereitet.
Hier wird die Not­wen­dig­keit, „kontrastreich“ han­deln zu können, besonders deutlich. Der Budôka kann auf ei­ne in­ten­si­ve Übung zurückblicken und be­sitzt die Fä­hig­keit,
sei­nen Körper mit großer Wahr­schein­lich­keit er­folg­reich ein­zu­set­zen, aber gerade des­we­gen muss ei­ne Kon­fron­ta­ti­on ver­mie­den wer­den. Im Ide­al­fall kann die kom­men­de Ge­fahr vor­zei­tig er­kannt und ihr in einer po­ten­zi­ell un­an­ge­neh­men Si­tua­ti­on be­reits vor ih­rem Zu­stan­de­kom­men aus­ge­wi­chen wer­den.
Aufgrund seiner friedlichen Ein­stel­lung ver­sucht der tra­di­tio­nel­le Bu­dô­ka ei­ne Aus­ein­an­der­set­zung grund­sätz­lich zu ver­mei­den. Dies entspricht der Leh­re je­der Kampf­kunst, die den Kör­per auf Tech­nik und den Geist auf Ru­he trai­niert. Der Ver­such, die­se bei­d­e­n ­Kom­po­nen­ten in Ein­klang zu brin­gen, stellt einen an­spru­chs­vol­len Weg dar, ­an des­sen loh­nen­dem En­de ei­n aus­ge­gli­che­ner ­Men­sch ste­hen wird. Seine Ein­stel­lung mag al­ler­dings noch so fried­lich sein, wenn ab­so­lut al­les ver­sucht wur­de und die Kon­fron­ta­tion sich als un­aus­weich­lich er­wie­sen hat, ent­schei­det der Bu­dô­ka sich mit der­sel­ben stren­gen Kon­se­quenz, ei­ne Her­aus­for­de­rung an­zu­neh­men und ge­nau wie ein Sa­mu­rai frü­her kom­pro­mis­slos ziel­ori­en­tiert vor­zu­ge­hen.

Aus dem Buch: Der Pfad der Flexibilität / Einführung des Kapitels „Das Wachsen“

Quelle: http://www.budo-books.com/category/blog/

Die eigenen Stärken


Der Budôka weiß, dass er neben seinen Schwä­chen auch be­stimm­te Qua­li­tä­ten vor­zu­wei­sen hat. Er ver­fei­nert sie, wer­tet sie auf diese Weise auf und wird sich erst dann zu­frie­den geben, wenn er das Best­mög­liche aus ihnen her­aus­geholt hat. 

Keine Stärke kann als ausschließlich positiv eingestuft werden, eben­so wie Schwä­chen das Po­ten­zial ent­fal­ten kön­nen, sich in Vor­zü­ge zu­ verwan­deln. So kann Starrsinn etwa, an der richtigen Stelle für die eigenen Zwecke ein­ge­setzt, zu beharrlicher Ausdauer veredelt wer­den, die dann dabei hilft, schwie­ri­ge Aufgaben zu mei­stern.
In der Welt des Budô wird hin und wieder darüber diskutiert, ob eine be­stimm­te Kampfkunst ef­fek­tiver ist als eine an­de­re oder ob Kampf­künste au­ßerhalb der ja­pa­ni­schen Dis­zi­pli­nen wirksamer sind oder nicht. Alles ist jedoch relativ und solche Ver­glei­che führen vor allem deswegen zu keinem ob­jek­tiven Er­geb­nis, weil die Ef­fek­ti­vi­tät einer Kampf­kunst im­mer auch von den Prak­ti­zie­ren­den selbst ab­hän­gt. Davon abgesehen gibt es so­wohl Dis­zi­pli­nen als auch Bu­dô­ka, die ihre Ziele und Er­fol­ge nicht in kör­per­lichen Aus­ein­an­der­set­zungen sehen. Die Stärken werden hier dem­nach an ganz an­de­ren Stellen ge­mes­sen.
So ist eine wichtige Fähigkeit, die sich der Kampf­künst­ler im Lau­fe der Zeit aneignet, die ei­ge­nen Stär­ken erkennen zu können und für sich und an­de­re nur ihre kon­struk­ti­ven Seiten zu nut­zen.
Obwohl er einen Kampf grundsätzlich ver­meiden wird, weiß der Budôka, dass er die Voraussetzungen hat, eine Kon­fron­ta­tion mit großer Wahr­schein­lich­keit sieg­reich zu beenden. Obwohl ihn viele Schü­ler bereits ver­la­s­sen haben, weiß er, dass einige von ihnen an­ge­nom­men ha­ben, was er zu lehren hat.
Er ist sich dessen be­wusst, dass die Jahre zwar ver­ge­hen, er aber dank des stän­di­gen Übens in seiner Dis­zi­plin geistig und körperlich fit geblieben ist. Die­se und viele wei­te­re Erfolge hat der Bu­dô­ka auf sei­nem Weg für sich verbuchen können und seinen Cha­rak­ter da­durch ge­formt. Seine große Stärke ist, in seinen Gedankengängen stets etwas Po­si­tives finden zu können.
Es ist wich­tig, dass er sich seine Fähigkeiten immer wieder ins Gedächtnis ruft. Für Men­schen, die nach hohen Zielen stre­ben und die es gewohnt sind, sich selbst gegenüber eine kritische Haltung ein­zu­neh­men – und unter diese Ka­te­go­rie fällt auch der Bu­dô­ka –, ist es selbst­ver­ständ­lich, die ei­ge­nen Stär­ken als ei­n­ge­schränkt zu betrachten. Selbst wenn sie sich ihre Fähigkeiten vor Augen halten, be­rei­tet es solchen Menschen oft zu große Schwie­rig­kei­ten, ihre po­si­ti­ven Ei­gen­schaf­ten voll­stän­dig zu ak­zep­tie­ren, als dass sie wil­lent­lich einen tat­säch­li­chen Vor­teil aus ihnen ­zie­hen kön­nten.
Die Qualitäten, die wir uns auf unserem Lebensweg er­wor­ben haben, wahr­zu­nehmen und richtig mit ihnen um­zu­ge­hen, macht uns deutlich, was wir erreicht haben. Dies stellt dann einen An­sporn dar, nun mit dem Wissen wei­ter­zu­ge­hen, auf wel­chem Niveau die künftigen Schrit­te ba­sie­ren kön­nen, und ab wel­chem Punkt der ei­ge­ne Weg wei­ter­ver­folgt wer­den kann.
Gerade in unserer Gesellschaft, die häufig den Einsatz der El­len­bogen notwendig macht, er­weist sich als wich­tiger Fak­tor, zu wis­sen, welche Qua­li­täten man vorzuweisen hat. Denn zu­rück­hal­ten­des Be­neh­men, das mög­li­cher­weise in einem man­geln­den Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten begründet liegt, ­wird leicht als Schwäche aus­ge­legt. Die Folgen sind etwa, aus­ge­nutzt zu werden oder dass eine be­ruf­liche Kar­riere zumindest behindert wird. Wenn man die eigene Position und den eigenen Wert nicht kennt und einen dem­ent­spre­chen­den Eindruck vermittelt, wird jede Aufgabe mit größeren An­stren­gungen als nötig verbunden sein.
Ein Budôka, der in einer Situation, in der er sich selbst ver­tei­digen muss, nicht ge­zwun­gen ist, zu kämpfen, hat das unter an­de­rem auch der sicheren Aus­strah­lung zu verdanken, die von ihm ausgeht, wenn er sich darüber im Klaren ist, wer er ist und was er kann.
In der Budô-Literatur findet man ge­le­gent­lich A­n­ek­do­ten, in denen Samurai oder andere Kampfkünstler in der Lage sind, den oder die Gegner allein durch ihre Anwesenheit zu be­zwin­gen, in einer Aus­ein­an­der­set­zun­g, die nicht kör­per­li­ch aus­ge­tra­gen wird.
Eine besondere Eigenschaft, die durch die Kampf­künste in jah­re­langer Praxis erst im Dôjô, dann im täglichen Leben aus­ge­bil­det werden kann, ist Wil­lens­stär­ke. Das kon­ti­nu­ier­liche Ver­bes­sern je­der ­ein­zel­nen T­ech­ni­k formt ei­nen festen Willen, der si­ch ­ir­gend­wann ver­selbst­stän­digt und auch dann immer weiter nach Schwach­punk­ten sucht, wenn von außen nichts mehr ver­bes­se­rungs­wür­dig er­scheint.
Im praktischen Leben offenbart sich diese Eigenschaft bei­spiels­wei­se im Umgang mit ei­ner Er­käl­tung oder einer Sport­ver­let­zung, ­wie etwa einer Mus­kel­zer­rung. Mit dem ent­schlos­se­nen Gedanken sich von der lästigen Er­käl­tung, b­zw. den Zer­rungs­sch­mer­zen nicht den Tag be­stim­men zu las­sen, wird diesen Hindernissen mit einer „Sie­ger­ein­stel­lung“ be­geg­net. Das geplante Abend­es­sen wird we­gen der Erkältung nicht verschoben, das Training we­gen der Zerrung nicht ab­ge­sagt. Vielmehr wird nach Lösungen gesucht, wie die Be­schwer­den am effektivsten zu be­kämp­fen und wie sie bis zu ihrem Abklingen am besten in den eigenen Tagesablauf zu integrieren sind, ohne dass auf allzu viel verzichtet werden muss.
Durch positive Gedanken kann man die Fähigkeit des Kör­pers, sich selbst zu heilen, nachhaltig unterstützen. Zu­sätz­lich zur Anwendung von Medikamenten wird durch die Überzeugung, dass der Geist den Körper beeinflusst, ge­dank­liche Energie freigesetzt (im Ka­pi­tel „Meditation“ wird dieses The­ma aus­führ­lich be­han­delt) und so der Hei­lungs­prozess be­schleu­nigt. Mit diesem Bewusstsein und der Ein­stel­lung, Sieger bleiben zu wollen, kon­zen­triert sich der Budôka bei der Er­käl­tung auf die Atem­we­ge oder auf die ­schmer­zen­de Stel­le bei der Zer­rung. Dabei ent­spannt er sich geistig und kör­per­lich, wo­bei die Auf­merk­sam­keit auf die von ihm gewünschten Punk­te gerichtet wird. Eine po­si­tive Be­ein­flus­sung durch Gedanken kann auf viele, in­di­vi­du­ell un­ter­schiedliche Arten herbeigeführt werden und hängt von den Veranlagungen und Ei­gen­schaf­ten des Ein­zelnen ab. So kann die At­mung in das Hara (En­er­gie­zen­trum circa drei Zen­ti­me­ter un­ter­halb des Bauch­na­bels) ge­senkt wer­den, die Ge­dan­ken kön­nen be­wusst auf ganz andere Dinge ge­lenkt wer­den oder man stellt sich der Aus­ein­an­der­setzung mit der Schwach­stel­le, um sie ent­we­der zu bekämpfen oder zu ak­zep­tie­ren.
So nutzt der Budôka die klei­nen Übun­gen, die das Leben ihm bie­tet, um zu ler­nen, wie er seine Wil­lens­kraft ein­­set­zen kann. Wenn ei­nes Ta­ges ei­ne gro­ße Her­aus­for­de­rung auf ihn zukommt, wird er wis­sen, mit wel­cher Me­tho­de er sich ihr stellen muss, da ihm sei­ne Stär­ken nun be­kannt sind.

Aus dem Buch: Der Pfad der Flexibilität / Einführung des Kapitels „Die Reife“