Karate beginnt im Dojo, dort hört es jedoch nicht auf.
Im Dojo werden Körper und Geist gleichzeitig geschult. Körperlich
werden Bewegungen, Abläufe und Rhythmen im Laufe der Zeit immer genauer
beherrscht. Dazu entwickelt sich die Fähigkeit, komplexe koordinierte
Bewegungen mit Anspannung, Entspannung und der Atmung zu kombinieren.
Durch unermüdliche Wiederholungen formen sich der Charakter, die
Ausdauer, die Disziplin und die Konzentration. Die Kampftaktik und die
Ästhetik werden verfeinert. In Kampf werden kleinste Veränderungen
erkannt und die geschulte Reaktionsfähigkeit ermöglicht dem Karateka
schnell auf Impulse und blitzartige Aktionen zu reagieren. Das Gefühl
zum intuitiven Handeln stellt sich mit der Zeit ein, es wird gehandelt
noch bevor eine Aktion stattgefunden hat.
Wozu werden diese Fähigkeiten gebraucht und was gibt das für einen praktischen Sinn in unserer modernen Gesellschaft?
Es mag sein, dass in der Vergangenheit alle diese Fähigkeiten zu
beherrschen deutlich wichtiger waren als heute – früher war es nicht
unüblich in körperliche Auseinandersetzungen zu geraten. In unseren
westlichen Gesellschaft ist die Selbstverteidigung (anders als die
Selbstbehauptung) für die meisten von uns kein Thema mehr, mit dem man
sich intensiv auseinander setzen müsste – zum Glück. In der Regel wird
sich der normale Bürger in seinem Alltag selten oder nie in einer
körperlichen Konfrontation befinden. Schon Funakoshi zu seiner Zeit
sagte „Karate wirst du nur ein mal im Leben brauchen oder nie“. Dabei
bezog er sich auf das Thema der Selbstverteidigung.
Also, der Schwerpunkt hat sich verlagert. Im Fokus stehen Elemente
wie Sport, Gesundheit, Ausgleich und Freizeit. Das sind die praktischen
Aspekte, welche sich dadurch von selbst ergeben.
Wenn man aber etwas tiefer gräbt, wird man andere Aspekte erkennen,
die das Leben im Alltag stark unterstützen, wenn man sie aktiv einsetzt.
Entscheidungen treffen
Wird eine Technik schnell und stark gestartet, gibt es kein zurück
mehr. Sie hört auf, wenn sie zum Ziel kommt oder abgewehrt wird. Keine
halbe Sachen, angefangenes wird zum Ende gebracht, mit allen
Konsequenzen.
Hinter den eigenen Handlungen stehen
Man übt eine Kata und man stellt fest, dass man sich verlaufen hat.
Das Beste ist die Kata zu Ende zu bringen, erst danach kann man sich
darüber aufregen, wenn man unbedingt will. Also Fehler akzeptieren,
nicht vorzeitig versuchen sie zu korrigieren, durch die Unterbrechung
wird der Fehler nur deutlicher oder schlimmer. Am besten ist, die Übung
(im Alltag die Aufgabe) komplett durchzuführen und danach wieder ganz
von vorne anzufangen. Mit Gelassenheit.
Liebe zum Detail
Immer weiter kommen, stärker und schneller werden, die Techniken
besser beherrschen, die Koordination verfeinern. Das streben nach mehr
entwickelt den Willen ständig weiter in die Tiefe zu gehen, mehr und
mehr aus den kleinsten Details rauszuholen. Diese mentale Einstellung
wird ein Bestandteil unseres Charakters und wir übernehmen ihn in unsere
alltäglichen Gewohnheiten. Verhältnisse mit anderen werden vertieft,
Unterschiede wandeln sich in Ergänzungen um, unsere Arbeit wird genauer
und die Leistung steigt.
Der Ort in den man sucht
Das Dojo ist nicht nur der Trainingsraum, er formt den Karateka.
Dabei spielt es keine Rolle, wie schön oder wie groß der Raum ist. Die
Art und Weise wie man sich im Dojo benimmt, die Achtsamkeit und das
gesamte Benehmen führen den Karateka, macht das Dojo zum Ort der Suche.
Ob man trainiert oder nicht, man geht immer mit einer Verbeugung in den
Raum und damit verlässt man ihn auch. Das zeigt nicht nur den Respekt,
den man für diesem wertvollen Raum gegenüber besitzt, sondern
unterstreicht auch die Geisteshaltung die man gerne annimmt, wenn man
sich in ihm befindet. Jeder hat seinen eigenen Kodex gefüllt von (zum
Teil) unausgesprochenen Benimmregeln, die man sich selber auferlegt um
Wertvolles zu Respektieren (Mensch, Tier, Natur, … Dojo). Das Dojo ist
der Ort in dem man dieses Benehmen übt und lebt.
Die Kraft der Rituale
Das Zeremoniell im Seiza, der Verbeugung mit der kurzen Meditation
für alle zusammen vor und nach dem Training. Die Verbeugung zu seinem
Partner (im Dojo nie ein Gegner!), zu Beginn und am Ende einer Kata oder
der Grundschule. Die Art, wie man steht und zuhört wenn der Lehrer
etwas erklärt. Diese und andere Benimmformen und Rituale, die auch
individuell in jeder Karate-Schule zu finden sind, formen nachhaltig die
Geisteshaltung. Sie kann auch das Leben außerhalb vom Dojo
strukturieren. Dadurch werden alltägliche, normale Tätigkeiten an
Wichtigkeit gewinnen. Und plötzlich wird die routinierte Kleinigkeit,
die immer als selbstverständlich eingestuft worden ist, ein Element
welches schöne und wertvolle Augenblicke erzeugen kann. Die gewonnene
Geisteshaltung trägt die Überschrift „Achtsamkeit“.
Respekt für die Tradition
Die Menschheit hat sich über Generationen hinweg durch streben nach
Entdeckungen und Wissen entwickelt. Innovationen basieren auf den
Erfahrungen der Vergangenheit, wir beginnen nie von vorne. Das was wir
erreichen, verdanken wir den Menschen die vor uns gelebt haben und die
Basis unseres Wissen gelegt haben. Alles funktioniert so, die
Kampfkünste sind keine Ausnahme. Das lehrt uns die Traditionen mit
Respekt zu begegnen und sie nicht zur Seite zu legen. Jeder kennt den
Satz: „Hinterher weißt man es immer besser.“ Die wenigsten Neuerungen
werden auf den ersten Versuch gelingen, sie sind die Ausnahmen.
Der Weg um sich richtig zu entwickeln geht in der Regel über Umwege.
Zuerst sollte die Tradition verstanden und respektiert werden. Erst
dadurch wird das Vorhaben auf ein stabiles Fundament des Wissens
gestellt und damit hat es gute Chancen auf eine nachhaltige Zukunft.
Ein Weg ohne Ende
Nie ankommen ist das Ziel! Wenn man das Konzept „Der Weg ist das
Ziel“ verinnerlicht hat und lebt, hat man eine wichtige Weisheit
erlangt. Die Kampfkünste beginnen mit dem Weißgurt, enden jedoch nicht
mit dem Schwarzgurt, sondern wieder mit der selben Farbe: weiß. Die
vielen Jahre der Übung und das Tragen der Meistergrade führen dahin,
dass das Schwarze des Gürtels sich abnutzt und das Weiße wieder zum
Vorschein kommt. Es ist ein Symbol. Im Zen sagt man, dass der
Anfängergeist – das Streben nach Wissen – einen Menschen ein leben Lang
begleiten soll. … Ein Weg ohne Ende.
Kalligraphie: Shihan Hannelore Dietrich-Cap
Quelle:
http://www.budo-books.com/karate-do-shougai-der-weg-der-leeren-hand-ein-leben-lang/