Der Budôka weiß, dass er neben seinen Schwächen auch bestimmte Qualitäten vorzuweisen hat. Er verfeinert sie, wertet sie auf diese Weise auf und wird sich erst dann zufrieden geben, wenn er das Bestmögliche aus ihnen herausgeholt hat.
In der Welt des Budô wird hin und wieder darüber diskutiert, ob eine bestimmte Kampfkunst effektiver ist als eine andere oder ob Kampfkünste außerhalb der japanischen Disziplinen wirksamer sind oder nicht. Alles ist jedoch relativ und solche Vergleiche führen vor allem deswegen zu keinem objektiven Ergebnis, weil die Effektivität einer Kampfkunst immer auch von den Praktizierenden selbst abhängt. Davon abgesehen gibt es sowohl Disziplinen als auch Budôka, die ihre Ziele und Erfolge nicht in körperlichen Auseinandersetzungen sehen. Die Stärken werden hier demnach an ganz anderen Stellen gemessen.
So ist eine wichtige Fähigkeit, die sich der Kampfkünstler im Laufe der Zeit aneignet, die eigenen Stärken erkennen zu können und für sich und andere nur ihre konstruktiven Seiten zu nutzen.
Obwohl er einen Kampf grundsätzlich vermeiden wird, weiß der Budôka, dass er die Voraussetzungen hat, eine Konfrontation mit großer Wahrscheinlichkeit siegreich zu beenden. Obwohl ihn viele Schüler bereits verlassen haben, weiß er, dass einige von ihnen angenommen haben, was er zu lehren hat.
Er ist sich dessen bewusst, dass die Jahre zwar vergehen, er aber dank des ständigen Übens in seiner Disziplin geistig und körperlich fit geblieben ist. Diese und viele weitere Erfolge hat der Budôka auf seinem Weg für sich verbuchen können und seinen Charakter dadurch geformt. Seine große Stärke ist, in seinen Gedankengängen stets etwas Positives finden zu können.
Es ist wichtig, dass er sich seine Fähigkeiten immer wieder ins Gedächtnis ruft. Für Menschen, die nach hohen Zielen streben und die es gewohnt sind, sich selbst gegenüber eine kritische Haltung einzunehmen – und unter diese Kategorie fällt auch der Budôka –, ist es selbstverständlich, die eigenen Stärken als eingeschränkt zu betrachten. Selbst wenn sie sich ihre Fähigkeiten vor Augen halten, bereitet es solchen Menschen oft zu große Schwierigkeiten, ihre positiven Eigenschaften vollständig zu akzeptieren, als dass sie willentlich einen tatsächlichen Vorteil aus ihnen ziehen könnten.
Die Qualitäten, die wir uns auf unserem Lebensweg erworben haben, wahrzunehmen und richtig mit ihnen umzugehen, macht uns deutlich, was wir erreicht haben. Dies stellt dann einen Ansporn dar, nun mit dem Wissen weiterzugehen, auf welchem Niveau die künftigen Schritte basieren können, und ab welchem Punkt der eigene Weg weiterverfolgt werden kann.
Gerade in unserer Gesellschaft, die häufig den Einsatz der Ellenbogen notwendig macht, erweist sich als wichtiger Faktor, zu wissen, welche Qualitäten man vorzuweisen hat. Denn zurückhaltendes Benehmen, das möglicherweise in einem mangelnden Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten begründet liegt, wird leicht als Schwäche ausgelegt. Die Folgen sind etwa, ausgenutzt zu werden oder dass eine berufliche Karriere zumindest behindert wird. Wenn man die eigene Position und den eigenen Wert nicht kennt und einen dementsprechenden Eindruck vermittelt, wird jede Aufgabe mit größeren Anstrengungen als nötig verbunden sein.
Ein Budôka, der in einer Situation, in der er sich selbst verteidigen muss, nicht gezwungen ist, zu kämpfen, hat das unter anderem auch der sicheren Ausstrahlung zu verdanken, die von ihm ausgeht, wenn er sich darüber im Klaren ist, wer er ist und was er kann.
In der Budô-Literatur findet man gelegentlich Anekdoten, in denen Samurai oder andere Kampfkünstler in der Lage sind, den oder die Gegner allein durch ihre Anwesenheit zu bezwingen, in einer Auseinandersetzung, die nicht körperlich ausgetragen wird.
Eine besondere Eigenschaft, die durch die Kampfkünste in jahrelanger Praxis erst im Dôjô, dann im täglichen Leben ausgebildet werden kann, ist Willensstärke. Das kontinuierliche Verbessern jeder einzelnen Technik formt einen festen Willen, der sich irgendwann verselbstständigt und auch dann immer weiter nach Schwachpunkten sucht, wenn von außen nichts mehr verbesserungswürdig erscheint.
Im praktischen Leben offenbart sich diese Eigenschaft beispielsweise im Umgang mit einer Erkältung oder einer Sportverletzung, wie etwa einer Muskelzerrung. Mit dem entschlossenen Gedanken sich von der lästigen Erkältung, bzw. den Zerrungsschmerzen nicht den Tag bestimmen zu lassen, wird diesen Hindernissen mit einer „Siegereinstellung“ begegnet. Das geplante Abendessen wird wegen der Erkältung nicht verschoben, das Training wegen der Zerrung nicht abgesagt. Vielmehr wird nach Lösungen gesucht, wie die Beschwerden am effektivsten zu bekämpfen und wie sie bis zu ihrem Abklingen am besten in den eigenen Tagesablauf zu integrieren sind, ohne dass auf allzu viel verzichtet werden muss.
Durch positive Gedanken kann man die Fähigkeit des Körpers, sich selbst zu heilen, nachhaltig unterstützen. Zusätzlich zur Anwendung von Medikamenten wird durch die Überzeugung, dass der Geist den Körper beeinflusst, gedankliche Energie freigesetzt (im Kapitel „Meditation“ wird dieses Thema ausführlich behandelt) und so der Heilungsprozess beschleunigt. Mit diesem Bewusstsein und der Einstellung, Sieger bleiben zu wollen, konzentriert sich der Budôka bei der Erkältung auf die Atemwege oder auf die schmerzende Stelle bei der Zerrung. Dabei entspannt er sich geistig und körperlich, wobei die Aufmerksamkeit auf die von ihm gewünschten Punkte gerichtet wird. Eine positive Beeinflussung durch Gedanken kann auf viele, individuell unterschiedliche Arten herbeigeführt werden und hängt von den Veranlagungen und Eigenschaften des Einzelnen ab. So kann die Atmung in das Hara (Energiezentrum circa drei Zentimeter unterhalb des Bauchnabels) gesenkt werden, die Gedanken können bewusst auf ganz andere Dinge gelenkt werden oder man stellt sich der Auseinandersetzung mit der Schwachstelle, um sie entweder zu bekämpfen oder zu akzeptieren.
So nutzt der Budôka die kleinen Übungen, die das Leben ihm bietet, um zu lernen, wie er seine Willenskraft einsetzen kann. Wenn eines Tages eine große Herausforderung auf ihn zukommt, wird er wissen, mit welcher Methode er sich ihr stellen muss, da ihm seine Stärken nun bekannt sind.
Aus dem Buch: Der Pfad der Flexibilität / Einführung des Kapitels „Die Reife“
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